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Boykott oder bewusster Konsum Der wahre Preis eines US-Bücherverzichts Kolumne

Boykott oder bewusster Konsum? Der wahre Preis eines US-Bücherverzichts | Kolumne

Sollten europäische Leser US-Bücher boykottieren?

In Zeiten globaler Krisen und geopolitischer Spannungen nehmen die Aufrufe zu Boykotten gegen Produkte aus bestimmten Ländern immer wieder zu. Was sich früher vor allem auf Technologieunternehmen, Modeketten oder Lebensmittelkonzerne beschränkt hatte, geht seit dem teils fragwürdigen Verhalten der neuen US-Administration tiefer und könnte nun auch auf die Kulturbranche ausgeweitet werden – einschließlich Bücher aus den USA. Deswegen habe ich mir die Fragen gestellt: Ist ein solcher Boykott gegenüber US-amerikanischen Büchern durch europäische Leserinnen und Leser wirklich sinnvoll? Und wer wäre tatsächlich betroffen: die großen Verlage oder die Autoren selbst?

Zunächst einmal wirkt es so, als würde die Überlegung, US-amerikanische Bücher zu boykottieren, ein starkes politisches Zeichen setzen. Die Kulturindustrie der USA nimmt als dominierender Global Player eine führende Rolle ein, und zahlreiche bedeutende Literaturagenturen sowie Verlage sind in New York City ansässig. Die Buchwirtschaft funktioniert jedoch anders als andere Wirtschaftssektoren. Sie weisen eine enge Verbindung zu internationalen Märkten auf, und die Wertschöpfungskette ist deutlich komplexer als die eines Fast-Food-Konzerns, sodass ein Vergleich nicht angemessen ist. Ein Boykott könnte daher unerwartete Konsequenzen nach sich ziehen, deren Nutzen fraglich ist.

Die Verlagsstrukturen – Wer würde wirklich getroffen?

Ein großer Teil der namhaften US-amerikanischen Verlage gehört mittlerweile zu internationalen Konzernen. Ein Musterbeispiel dafür ist Penguin Random House, das Teil des deutschen Bertelsmann-Konzerns ist. Wer also glaubt, mit dem Verzicht auf Bücher dieses Verlags ein Zeichen gegen US-Produkte zu setzen, schadet tatsächlich auch der europäischen Verlagsindustrie. Auch bei HarperCollins, das zur News Corp gehört, und Simon & Schuster, das inzwischen von einem US-Finanzinvestor übernommen wurde, ist die Situation ähnlich. Diese Strukturen verdeutlichen: Eine nationale Abgrenzung der Buchbranche gestaltet sich nicht nur schwierig, es ist fast unmöglich.

Die Lage bezüglich der Lizenzrechte verkompliziert die Sache zusätzlich. Viele US-amerikanische Bücher werden von europäischen Verlagen lizenziert und in Übersetzung veröffentlicht. Daher könnte ein Boykott amerikanischer Bücher in Deutschland und anderen europäischen Ländern auch die kleineren, unabhängigen europäischen Verlage betreffen, die sich auf Übersetzungen für ein Nischenpublikum konzentrieren. Des Weiteren kooperieren zahlreiche europäische Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit US-Agenturen, um ihre Werke auf internationaler Ebene zu vertreiben. Ein weitreichender Boykott würde die transatlantischen Beziehungen empfindlich beeinträchtigen, ohne dass die großen Unternehmen dadurch signifikant geschädigt würden.

Die wahren Verlierer: Autorinnen und Autoren

Während große Verlagshäuser über eine weitreichende wirtschaftliche Basis verfügen und Umsatzrückgänge ausgleichen können, sind die Verhältnisse für die meisten Autoren ganz anders. Bestsellerautoren wie Stephen King, Colleen Hoover oder James Patterson würden einen Boykott sehr wahrscheinlich kaum wahrnehmen. Ihre Bücher werden weltweit millionenfach verkauft, und selbst wenn ein Markt einbricht, bleiben für sie viele andere Einnahmequellen erhalten. Für Midlist-Autoren oder Debütanten kann ein Rückgang der Verkaufszahlen jedoch existenzbedrohend sein.

Insbesondere die Autorinnen und Autoren, die sich an gesellschaftlichen oder politischen Diskussionen beteiligen, könnten ungewollt betroffen sein. Wer beispielsweise LGBTQIA+-Literatur oder kritische Gesellschaftsanalysen aus den USA lesen möchte, würde es durch einen Boykott schwerer haben, Zugang zu diesen Stimmen zu erhalten. Es ist also ironischerweise so, dass ausgerechnet die progressiven und diverseren Stimmen betroffen wären, während die großen Verlagshäuser sich weiterhin auf ihre Bestseller verlassen könnten, die hohe Einnahmen generieren.

Ein zusätzliches Problem besteht darin, dass die Tantiemen für Autorinnen und Autoren in der Mehrheit der Fälle gering ausfallen. Für viele beträgt der Gewinn pro verkauftem Buch bei nur einigen Dollar, und jeder Verlust an Verkäufen hat unmittelbare Auswirkungen auf ihre finanzielle Situation. Ein Boykott könnte außerdem dazu führen, dass Verlage geringere Risiken eingehen und sich eher auf bewährte Bestseller konzentrieren, anstatt neue und außergewöhnliche Stimmen zu unterstützen. Dies könnte die literarische Diversität auf lange Sicht beeinträchtigen.

Literatur als Kulturgut, nicht als Waffe

Ein grundlegender Unterschied besteht zwischen dem Boykott einer Fast-Food-Kette und dem Boykott des Buchmarktes. Bei Ersterem stehen vor allem finanzielle Interessen im Vordergrund, während Bücher vor allem erst einmal ein Kulturgut darstellen. Denn Bücher bringen Ideen in Umlauf, unterstützen die geistige Interaktion und bieten neue Sichtweisen an. Insbesondere in Zeiten (geo-)politischer Spannungen sind sie ein wichtiger Faktor, um den Dialog und das Verständnis zwischen verschiedenen Kulturen weiter zu fördern.

Wer seinen Konsum bewusst gestalten will, kann kleinere und unabhängige Verlage und/oder Self-Publisher in Europa und den USA gezielt unterstützen. Es sind häufig diese Verlage, die neue und kritische Stimmen herausbringen und sich auf literarische Experimente einlassen. Ein pauschaler Boykott von US-Literatur schränkt also nicht nur die eigene Lesevielfalt ein, sondern könnte auch zur weiteren Kommerzialisierung des Buchmarktes beitragen, indem nur noch große Bestseller überleben.

Fazit: Bewusster Konsum statt pauschaler Boykott

Obwohl ein Boykott von US-Büchern als politisches Statement verlockend erscheinen mag, würde er vor allem diejenigen treffen, die am wenigsten Einfluss haben: die Autorinnen und Autoren sowie kleinere Verlage. Die großen Medienkonzerne sind bereits global vernetzt und könnten Verluste aus einem europäischen Boykott relativ problemlos kompensieren.

Wer tatsächlich ein Zeichen setzen möchte, sollte stattdessen bewusster konsumieren:

  • Unabhängige Verlage fördern, die vielfältige Stimmen unterstützen.
  • Autorinnen und Autoren im Self-Publishing bevorzugen.
  • Zielgerichteter Kauf von Werken marginalisierter Autorinnen und Autoren, statt sich ausschließlich auf Bestseller aus dem Mainstream zu fokussieren.
  • Den Literaturbetrieb als kulturelle Plattform sehen, die den internationalen Austausch fördert, und nicht nur als einfachen Wirtschaftszweig.

Ein genereller Boykott würde die literarische Vielfalt daher eher schwächen als stärken. Bücher sollten nicht als Kollateralschaden (geo-)politischer Konflikte betrachtet werden, sondern als das, was sie sind: Fenster in andere Welten, Brücken zwischen Kulturen und Werkzeuge für Verständigung.

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